Über Regine Steenbocks Film Chinese Weave
von Anja Dreschke

Für ihren Film CHINESE WEAVE hat Regine Steenbock ihre künstlerisch-ethnografische Forschung nicht in ein erzählendes Narrativ verpackt, vielmehr bildet eine mythische Erzählung den Rahmen: Am Anfang steht der Mythos von der verlorenen Schrift, den die Miao erzählen, um ihre Schriftlosigkeit zu begründen. Dabei ist Schriftlosigkeit das Letzte, was einem zu den komplexen vestimentären Zeichensystemen dieser ethnischen Gruppe einfällt, die heute im südlichen China beheimatet ist. In langen, beobachtenden Kameraeinstellungen erkundet Steenbock die Kleidung, die Rituale und den sozialen Alltag, welcher durch das Gewebe textiler Praktiken zusammengehalten werden.

Wir sehen Buchstaben, die sich auf Kleidungsstücken zu Schriftzügen formieren und Kleidungsstücke, mit traditionellen Stickereien und Mustern, die sich zu einem überbordenden Zeichensystem verbinden. Das Besondere an dieser Textilsprache ist, dass sie einerseits tief im mythischen Denken der Miao verwurzelt ist und andererseits die neuesten Trends globalisierter Fashion Labels aufgreift. All diese Zeichen scheinen sich zu verselbstständigen: sie gehen ungewöhnliche neue Verbindungen mit der traditionellen Bildsprache ein und werden scheinbar unbefangen in den animistisch geprägten Bedeutungskosmos der verschiedenen Miao-Communities integriert. Manchmal rätselhaft, manchmal erstaunlich, manchmal witzig. Beispielsweise sehen wir im letzten Teil des Films einen Lushengspieler während eines Begräbnisrituals, auf dessen T-Shirt der Schriftzug ›You know some birds‹ zu lesen ist. Der Schriftzug wirkt wie ein Kommentar auf die Federn als rituelle Medien, die herumgereicht werden und den Hahn im Käfig, der in der lokalen Vorstellung für den Übergang in die jenseitige Welt steht. Auf diese Weise macht der Film den sehr lokalspezifischen und experimentierfreudigen Umgang der Miao mit Mode und Textilien sichtbar und legt gleichzeitig ein nahezu unlesbar gewordenes globalisiertes Zeichensystems offen, das sich aus den wilden Überlagerungen lokaler Folklore und internationaler Modeströmungen zu speisen scheint.

Steenbock ist in ihren Bildern immer zugegen. Die Kamera wird – ohne Verwendung eines Stativs – unmittelbar von ihrem interessierten Blick gelenkt. Manchmal filmt sie als entschlüsselnde Beobachterin, dann ist sie wieder ganz nah an den Protagonist*innen und mittendrin im Geschehen, etwa bei der rituellen Einkleidung eines Stiers während einer Zeremonie der Ahnenverehrung. Steenbocks Anspruch an eine teilnehmende Kamera entspricht damit vielleicht am ehesten der dokumentarischen Haltung, die der Ethnologe und Filmemacher David MacDougall als responsive camera bezeichnet hat: eine Kamera, die auf Ereignisse reagiert und dabei auch zeigt, wie die Akteur*innen vor der Kamera ihre Handlungen für die Apparatur zurichten, etwa durch einen flüchtigen Blick oder ein kurzes Lächeln in die Kamera, aber auch sehr deutlich durch die Demonstration von Handwerkstechniken oder das Zeigen von Bildersammlungen auf dem Smartphone. Dabei wirken die Bilder nie künstlich komponiert oder ästhetisiert. Die Filmemacherin greift nie ins Geschehen ein. Wenn Protagonist*innen für die Kamera posieren, dann nur als Reaktion auf die Apparatur.

Die Struktur des Films wirkt offen, das Material ist jedoch präzise in den Sinnzusammenhängen des textilen Vokabulars und in thematischen Kapiteln organisiert:So etwa ›The Buffalo gets Dressed‹, ›Indigo‹, ›Transfer‹ oder eben ›You Know some Birds‹. In der Montage ergeben sich erstaunliche Verdichtungen, wenn etwa eine junge Frau mit einem T-Shirt, auf dem das Wort ›Tennis‹ steht, einer anderen Frau bei der Handarbeit zuschaut, die eine spezielle Applikations-Technik ausübt, bei der eine Swastika das Zentrum des Musters bildet. Im Anschluss an die Szene erläutert eine Texttafel, dass es sich bei dem Muster (um in der Sprache der Mode zu bleiben) um einen Hahnentritt handeln oder aber im nächsten Dorf für die Bewegung der Sterne stehen kann, die den Polarstern umkreisen. Dazu sehen wir die Stickerin in einem modernen T-Shirt, dessen Sternsymbole vollkommen willkürlich in ihrer Bedeutung zu sein scheinen. Der oder die aufmerksame Zuschauer*in erinnert sich vielleicht dann noch an die vorige Marktszene, in der ›der Hahnentritt‹ als Realia im Alltagsleben auftaucht. In der lokalen Bedeutung soll dieses Zeichen Hilfe in Krisenzeiten bringen. Solche schriftlichen Ergänzungen streut Steenbock allerdings nur selten ein und sie verzichtet auch bewusst auf jede weitere wortbasierte Form der Wissensproduktion oder auf dokumentarische Authentifizierungsstrategien. Es gibt keine erklärenden Testimonials und auch keine Untertitelungen des gesprochenen Wortes – um sich ganz auf das visuelle Moment konzentrieren zu können. Mit diesem Verzicht auf Erläuterungen verortet sie sich nicht nur in einer ethnografischen Dokumentarfilmtradition, die ausgehend von Robert Gardners Forest of Bliss (USA 1986) aktuell am prominentesten vom Harvard Sensory Ethnography Lab vertreten wird. Sie reflektiert und thematisiert mit dieser Auslassung auch sehr subtil ihre eigene ›Sprachlosigkeit‹ als forschende Künstlerin in einer Gesellschaft, deren gesprochene Sprachen sie nicht beherrscht. Die Kommunikation vor Ort ergab sich um so mehr über die visuelle Sprache der Mode, das geteilte Interesse an Textilien und dem Drang, ihre Bedeutungen als Geschichtenarchiv zu entschlüsseln. Steenbock, die in den 80er Jahren bei Peter Kubelka Film studierte und bis in die 90er Jahre fiktive Dokumentarfilme drehte, beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit Kleidung, betrieb jahrelang ihr eigenes Modelabel Sium und kam zunächst nach China, um an der Hochschule in Zhuhai Modedesign zu unterrichten. Die Faszination für ein Stück Stoff der Miao führte sie in die Provinz Guizhou, wo sie begann, sich intensiv mit der textilen Kultur dieser ethnischen Minderheit auseinander zu setzen. Das ethnografische Prinzip des ›follow the object‹ bestimmte fortan die langen Phasen der künstlerischen Forschung vor Ort. Auch wenn sich Steenbock nicht als Ethnologin versteht, ist ihre Vorgehensweise durchaus mit der Methodik der teilnehmenden Beobachtung im Sinne eines ›deep hanging out‹ (Geertz 1998) vergleichbar. In der Genauigkeit der Beobachtungen wird deutlich, dass der Film auf einer ausdauernden Forschung basiert, die den Blick der Filmemacherin für die erstaunlich kreative ästhetische Produktion der Miao geschult hat. Ihr Film lädt zu einem vergleichenden Sehen ein, mit dem sich diese Blickschule auch für die Zuschauer*innen nachvollziehen lässt.

Viele Hintergrundinformationen finden sich in Steenbocks umfangreichen Fotobuch ›Chinese Weave/Chinesisches Gewebe‹, das 2020 vor der Fertigstellung des Films bei Textem, Hamburg und als EBook bei Eeclectic Berlin erschienen ist.

Regine Steenbock
Chinese Weave
120 min., Farbe, HD, D/CN 2017- 2024